Die Dämonen von Curdimurka

Ruinen passen in dieses raue Land: Traurige, einsame Mauerreste, flankiert von
vertrockneten Bäumen. Erinnerungen daran, dass der Mensch hier nichts verloren hat.
So etwas fügt sich bestens in karge Steinwüste.
Ein Ort wie Curdimurka dagegen erstaunt: Eine Bahnstation wie aus einem Western
mitten im Nichts. Mit Dach, Türen und intakten Fenstern! Frisch gestrichenen Mauern!
Menschenleer, aber in einem Zustand, als könnte jeden Moment eine Dampflok einfahren
und der Bahnhof mit Reisenden gefüllt werden. Die Damen mit Schirmchen, die Herren
in Frack und Zylinder wohlgemerkt.
Die an der Station vorbeilaufenden Gleise enden jedoch nach ein paar hundert Metern
in beiden Richtungen. Zug wird hier keiner vorbeikommen.

Was soll das Ganze??! Mein Lonely Planet hat wie so oft die Antwort: Curdimurka wurde
von der „Ghan Railway Preservation Society“ restauriert. Und jedes Jahr im Oktober
veranstalten sie hier den „Curdimurka Outback Ball“: Bis zu 5000 (!) Gäste tanzen dazu
in Abendrobe an und feiern die Nacht durch. Fragt sich, was skurriler ist: eine renovierte,
leerstehende Bahnstation im Niemandsland oder 5000 Menschen, die an so einem Ort
ein Fest schmeißen.

Party findet bei meinem Eintreffen keine statt. Ein paar Galahs, die hinter der Station ihre
Nester gebaut haben, zetern über den ungeladenen Gast. Aber sonst bin ich ganz allein.
Bin ich das?
Ich meine, lebende Menschen werden heut Nacht keine mehr vorbeikommen – aber beim
Aufstellen des Zeltes beschleicht mich das Gefühl, dass ich die Ruhe irgendwelcher
lang verstorbener Bahnhofswärter stören könnte. Sollen sich nicht aufregen. Ich bleib
doch nur für wenige Stunden und vor Sonnenaufgang bin ich eine Wolke. Abgesehen davon
glaube ich überhaupt nicht an Geister. Was wollen sie also tun?

Die wenigen Stunden bis Sonnenaufgang zogen sich dann doch ganz schön hin.
Bis zu dieser Nacht hatte ich stets wie ein Stein geschlafen, Elf-Stunden-Radtage lassen
gar nichts anderes zu. Aber in dieser Nacht plagte mich Schlaflosigkeit: Ich war schnell
eingeschlafen, doch bald begann es rund um mein kleines Zelt zu spuken. Ich trat ein
in diesen grausigen Zustand, in dem man weder schläft noch wacht und Wirklichkeit nicht
von Traum zu unterscheiden ist. Die Dämonen des Outback setzten mir ordentlich zu.
Ich wand mich hin und her, versuchte in den Tiefschlaf zu flüchten. „Schleichts euch!
hätte ich ausgeschrien, aber die Stimme blieb mir im Halse stecken.
Wie konnte ich mich wehren? Mit Beschwörungsformeln? Meinem Anti-Dingo-Stick?
Pfefferspray? Den Gespenstern Curdimurkas ist mit all dem nicht beizukommen.
So vergingen Stunden im (H)albtraum.

Bis mir die antiken Griechen in den Sinn kamen. Die Wiege unserer Kultur, so sagt man.
Dort wurde ein heiliges Gut gepflegt, genannt „Gastrecht“. Dieses durfte nicht verwehrt
werden, Reisende hatten Anspruch auf Unterhalt und Verpflegung. Ob man an diesem Ort
etwas davon versteht? Meine Stimme versagte nach wie vor, deswegen rief ich’s so laut
ich konnte in Gedanken aus: „Ich beanspruche nicht mehr als mein Gastrecht!
Und siehe da, es kehrte Ruhe ein im verlassenen Curdimurka.
Die Dämonen von Curdimurka ließen mich von da an in Frieden – auch für den Rest meiner
Reise. Wie sollten sie mir auch nachkommen? Es fährt ja kein Zug nach Curdimurka.


[Leseprobe aus „Mitten durch! Australien“]