Druckausgleich

Wenn das alles vorbei ist, werde ich heulen. Ich werd mich irgendjemandem
an den Hals werfen und ihn vollplärren – vollkommen egal ob Freund oder Fremder.
Den Tränen freien Lauf lassen, Druck abbauen.
Dabei ist es keineswegs so, dass es mir schlecht ginge. Ich bin genau da, wo ich
sein will. Auf dem Sattel in der Wüste. Fahrrad und Körper sind in Bestform,
der Wind ist zu meinem Verbündeten geworden.
Manchmal allerdings wird mir für wenige Momente bewusst, wie knapp mich dieser Trip
an meine Grenzen führt. Etwa wenn mir auffällt, auf welch manische Weise ich während
des Radfahrens damit beschäftigt bin, nach der „besten“ Spur zu suchen:
Wie ein Besessener scanne ich die kommenden Meter der Piste, bin ständig auf der Suche
nach einer fahrbaren Linie. Alle paar Meter wird die Spur gewechselt, weil ich nebenan
festeren Untergrund vermute. Bei der vermeintlich geschmeidigeren Spur angekommen,
sieht’s sogleich „dort drüben“ wieder besser aus und der Kurs wird erneut geändert.
So geht das den ganzen Tag.
Obwohl es vollkommen gleichgültig ist, wo ich radle, weil die Piste in Wahrheit in ihrer
ganzen Breite scheiße ist.
Dass ich dabei bin, an meine Grenzen zu stoßen, wird ebenfalls offenbar, wenn ich mich
dabei ertappe, dass ich schon wieder eine halbe Ewigkeit ausschließlich an die kommenden
Etappen gedacht habe. Mir wieder und wieder dieselben Fragen gestellt habe:
Wie schlimm sind die 230 Kilometer bis Santa Teresa? Wie viele Kilometer werde ich
pro Tag schaffen? Wird das Wasser reichen?
Ich habe mich längst an mein Leben „on the dirt-road“ gewöhnt, da sind solche Sorgen
genauso unvermeidlich wie das dauernde Suchen nach der Spur.
Jedoch: Diese Sorgen kreisen nun schon seit einem halben Jahr in meinem Schädel herum.
Mittlerweile nehmen sie den größten Teil meines Arbeitsspeichers ein. Und der Rest wird
vom Spur-Suchprogramm gefüllt.
In den Momenten, in denen mir das klar wird, spüre ich den Druck, unter dem ich stehe.
Dazu fühlt sich mein Tun vollkommen absurd an: Allein am Sand, die Gegenwart ein einziger
Kampf, die Zukunft bestimmt von den ewig selben Fragen.
Ich schreie dann. Kurz aber laut. Irgendwas zwischen lachen und weinen.
Das leert den Arbeitsspeicher und schafft etwas Druckausgleich.
Kurz darauf werde ich die Spur wechseln und mir wieder Gedanken über die 230 Kilometer
bis Santa Teresa machen, als wär’s das erste Mal.


[Leseprobe aus „Mitten durch! Australien“]